KOLUMNE: SEI STOLZ AUF DICH. VOM TREU BLEIBEN, SELBSTFINDEN UND MENSCH SEIN
7/24/2018„Du kannst stolz auf dich sein!“
„Aber auf was soll ich denn stolz sein?“ fragt sie mich und ich blicke in ihre wunderschönen großen braunen Augen. Selten haben wir so ehrliche Gespräche an einem Nachmittag in einem kleinen Café mit runden Tischen und kleinen Blumenvasen vor uns geführt. Selten sah ich ihr so sehr an, dass es ihr einfach nicht gut geht. Ich will für sie laut weiterdenken, will sie aufheitern, will sie unterstützen und kann den Drang, das Problem auf den Tisch zu bringen, an ihren Augen ablesen.
Ich weiß gar nicht wann wir anfingen zu vergessen, auf jeden Schritt den wir schaffen stolz zu sein. Auf das Mensch, Frau, Freundin, Mutter, Tochter oder Angestellte Sein. Auf alles. Irgendwie muss jetzt doch immer alles größer und besser sein. Wir wollten uns doch lösen vom Status, vom großen Haus, vom Auto und vom Big Deal im Job. Wir wollten doch nicht mehr das sein, was viele immer nur aufbauten, um den Schein zu wahren? Wir wollten doch für uns leben, uns entdecken und glücklich sein mit dem, was wir gerade haben, ohne uns zu bedauern für das, was hätte sein können oder hätte sein sollen. Und vor allem nicht für die Meinung anderer.
„Nein,
ich bin nicht stolz auf mich- weil ich das alles nicht schaffe. Mir sind diese bescheuerten Autos, Kinderwagen, Hausgedanken und Eheversprechen egal. Ich traue mich nicht zuzugeben, dass es zu viel ist. Zu viel fitter sein, zu viel mehr Likes haben, zu viel immer informiert sein, zu viel immer dabei sein.
Ich schaffe es nicht, dem Anspruch der Frau zu entsprechen, der mir überall entgegenkommt: Immer gut gekleidet, top durchtrainiert, die Haare perfekt gestylt, drei Abschlüsse, zwei entspannte Kinder, glückliche Beziehung, wunderschön eingerichtete Wohnung, immer ein aufgeräumtes Haus und nie ein Fleck auf der Kleidung. Dabei immer gut gelaunt, top informiert, politisch versiert (aber nicht zu viel), sprachgewandt und doch das nette Mädchen von nebenan geblieben. Stay real! Aber ohne Gefühle und dem echten Leben bitte. #Lifegoal
Ich will zu keinem Monster mutieren, bei dem alles von außen betrachtet wunderbar glatt läuft. Weil wir es ja müssen…“
Ich verstehe sie und kenne den Druck. Manchmal kommt es einem so vor, als könnten alle anderen den Alltag mit einer simplen Handbewegung wuppen. Alles sofort erledigt, alles kein Problem. Aber wir wissen doch, tief in uns drin, dass wir Menschen sind und alle einmal aus dem Ruder laufen, das Leben nicht im Griff haben, zu spät kommen, das Shirt einsauen, die EC Karte liegen lassen, durchdrehen, heulen und dann wieder lachen. Niemand kann all das schaffen, das sollte niemand vorspielen müssen. Aber es wird nicht gern gesehen. Es ist nicht in zu sagen, dass ich das nicht schaffe. Wenn wir das tun, liegt es ja doch oft an uns selbst. Wir müssen mehr an uns arbeiten. Du musst nur den richtigen Sport machen, dem richtigen Mann begegnen, die richtige Entscheidung treffen und die richtige Kleidung tragen. Wer etwas nicht schafft, der arbeitet nicht genug an sich. Du musst an dir etwas ändern, an deiner Person, Figur, Einstellung und deinem Leben. Dann klappt das auch alles. Zumindest vermitteln mir das Bücher, Sprüche, Unterhaltungen und oft genug auch andere Frauen.
Ja ja!
Wenn ich es nicht packe und darüber spreche, bekomme ich kein Verständnis, sondern bescheuerte Ratschläge, wie ich mich ändern kann, dass es dann doch alles klappt, wie es mir vorgeschrieben wird. Aber ein fucking healthy drink rettet nicht meine Figur und ein Buch nicht meine Ehe. Mehr Sport, mehr Anstrengung und mehr von sich selbst aufgeben bringt mich nicht an das Ziel, das ich gar nicht erreichen will. Ich weiß, ich darf das nicht ansprechen. Es ist doch alles immer so wundervoll. Nein, manchmal ist alles auch ziemlich kacke. Ziemlich oft sogar. Was bin ich dann für die Anderen wenn ich das zugebe und anspreche? Schwach, faul, nicht engagiert genug, zu ungebildet, zu langweilig, zu unsexy, zu nicht vorzeigbar als Freundin. Ich darf als Frau nicht zeigen, dass ich nicht alles schaffe, große Macken habe, Fehler mache und auch nur ein Mensch bin.
Das setzt mich unter Druck, das macht mich mürbe - das macht mich so verdammt wütend.“
Ich nicke und schweige eine Weile vor mich hin. Das Café hat sich geleert, nur ganz leise nehme ich die Kellnerin zu meiner Linken wahr, die Gläser einräumt. Ich blicke wieder zu meiner wunderschönen Freundin, die gar nicht weiß wie toll sie gerade ist und wie ich ihre Ehrlichkeit schätze.
Vor mir darfst du das alles sein. Wir müssen aufhören uns vorzustellen, was andere von uns denken. Es ist eh selten gut, dafür viel zu oft gedanklicher Abfall. Wichtig ist, was du von dir hältst. Du schaffst mehr als du glaubst. Wir verlieren schnell den Fokus, sehen das Leben der anderen als besser, größer und wichtiger an und versuchen mitzuhalten. Auf einmal zählt das Wort der Kollegin, die wir sonst ziemlich unklug finden, mehr als das eigene Umfeld oder die innere Stimme. Denn die haben wir übertüncht mit solchen Gedanken. Wir müssten uns selbst viel mehr schätzen und aufhören, die Worte anderer höher zu wichten. Und wir müssen viel öfter darüber reden, was gerade Kacke läuft. Das gehört zum Leben dazu.
Wir brauchen noch einen Kaffee.
Warum ich euch etwas aus diesem Gespräch erzähle? Es gibt eben auch im Leben Momente, die man nicht optimieren, schön reden oder der Umwelt einfach anpassen kann. Das müssen wir auch nicht. Wir müssen nur viel mehr miteinander reden und stolz auf uns sein, als die Vorstellungen Anderer zu erfüllen. Wir beide lernen das gerade.
Alles Liebe
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